| Pressemeldung | Nr. 047

Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, in der Karfreitagsliturgie 2024

Hoher Dom zu Limburg

Mit der Abendmahlsliturgie haben gestern die heiligen Tage des Leidens und Sterbens Jesu, seiner Grabesruhe und seiner Auferstehung begonnen. Wer die Gottesdienste mitfeiert, kann eine intensive Zeit durchleben. Den Weg Jesu mitzugehen, das verleiht diesen Tagen ihre besondere Qualität. Es ist ein einziger heiliger Zeitraum, „triduum sacrum“, so hat man ihn schon früh bezeichnet. Danach ticken die Uhren anders, und unsere Lebenszeit und unsere Lebenswelten erscheinen verwandelt in neuem Licht. Abend und Morgen, Tag und Nacht gliedern auch diesen großen Tag, und die eindrucksvollen Liturgien schlagen den Spannungsbogen weit über uns.

Jetzt also ist Karfreitag, helllichter Tag. Am helllichten Tag, so erzählt man sich, sei der antike Philosoph Diogenes (413–323 v. Chr.) mit einer Lampe auf den Markt von Athen gegangen und habe ausgerufen: „Ich suche einen Menschen.“ Der Zyniker der ersten Stunde kritisierte mit seiner provozierenden Zeichenhandlung die aufgeblähte bürgerliche Selbstinszenierung und forderte die Suche nach dem wirklichen, menschlichen Menschen ein. Mehr als zweitausend Jahre später greift der deutsche Philosoph und scharfe Kritiker von Religion und christlicher Moral, Friedrich Nietzsche (1844–1900), die Szene wieder auf. Er lässt seinen „tollen Menschen“ den auf dem Marktplatz Herumstehenden zurufen: „Ich suche Gott!“, und damit erntet er bloß Sarkasmus. „Ist er denn verloren gegangen? […] Hat er sich verlaufen wie ein Kind? Oder hält er sich versteckt? […] Ist er zu Schiff gegangen? Ausgewandert?“(1)  Ich suche einen Menschen – Ich suche Gott: Der Ernst beider Bewegungen hat sich in unseren Tagen gründlich verschärft. Oder erledigt? Denn nicht wenigen Zeitgenossen scheinen schon die Fragen müßig oder gar suspekt. Wer sucht denn noch nach Gott? Und wer leistet sich den Luxus, in einer Zeit der Polykrisen, in der pragmatisch wirksame Strategien relevant und (über-)lebensnotwenig geworden sind, gründlich nach dem wirklichen, menschlichen Menschen zu suchen?

Wer dennoch nicht davon ablässt, nach Gott und Mensch zu fragen, den führt die gläubige Feier vom Leiden und Sterben des Herrn auf die Spur, und das am helllichten Tag. Markus durchschreitet im ältesten der vier Evangelien den Karfreitag im exakten Zeitmaß. Zur dritten Stunde wird Jesus gekreuzigt (vgl. Mk 15,25), zur sechsten Stunde – also zur Mittagszeit – bricht eine Finsternis über das ganze Land herein (vgl. Mk 15,33) und in der neunten Stunde – also um die Zeit, da wir uns hier versammelt haben – stirbt Jesus mit lautem Schrei (vgl. Mk 15,34). Was auf Golgota geschieht, ist ein Geschehen zwischen Gott und seinem Sohn. „Die Erzählung der Kreuzigung Jesu zeigt ab der dritten Stunde seine schrittweise Entblößung und Vereinsamung. In der sechsten Stunde hält die Zeit vollends an. Die Finsternis bricht herein und dauert bis zur neunten Stunde. Was geschieht in diesen drei langen Stunden? Nichts dar-über wird gesagt: Das schafft einen Hohlraum, dessen gewaltige Kraft dann im Schrei Jesu zum Ausbruch kommt. In diesem Schrei ergreift Jesus zum ersten und einzigen Mal während der ganzen Hinrichtung selbst die Initiative“, so beschreibt es Sr. Margareta Gruber(2) . „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Gott und Mensch auf dem Gipfel ihrer Suche nacheinander. Ist sie gescheitert, waren aller Lebenseinsatz und alles Gottvertrauen vergebens? Verliert sich die Sehnsucht im Nichts? Ich suche einen Menschen – Ich suche Gott. Oder ist vielleicht die ausgehaltene Leere, das innere Dunkel am helllichten äußeren Tag der radikalste Ausdruck von Beziehung? Jesus macht durch, was wir in unseren Niederlagen, im Schmerz und letztlich im Tod durchleiden. Ist Gott noch an unserer Seite? Ist seine Nähe spürbar? Trägt der Glaube? „Die einzige Möglichkeit, an Gott zu glauben und die Güte des Lebens zu behaupten, ist, dass er dabei ist und ebenso wenig unangefochten davonkommt wie wir selber“, schreibt der evangelische Theologe Fulbert Steffensky (*1933). „Nein, man kann keinen Sinn sehen in den großen Zerstörungen der Welt, und es ist gefährlich, ihnen einen Sinn zu unterstellen. Das Leiden läutert uns meistens nicht […]. Aber vielleicht kann man es tragen, weil es auch die Niederlagen Gottes sind. Wir werden nicht bewahrt, und wir sind nicht allein. Gott weicht nicht aus unseren Schmerzen“ (3). Glaubens-Einsichten am helllichten Tag.

Ganz anders hat Johannes seinen Gang durch den Karfreitag konzipiert. Als er gegen Ende des ersten christlichen Jahrhunderts sein Evangelium schreibt, da ist das Nachdenken über die tiefere Bedeutung des Todes und der Auferstehung Jesu schon weit fortgeschritten. Johannes folgt dem Anliegen, das Ganze vom Zentrum her zu betrachten, denn wer die Mitte findet, sieht auch das Ganze. Was die Zeitangaben betrifft, bleibt Johannes vage. Nachdrücklich betont er nur, dass Jesus am Rüsttag des Paschafestes stirbt, zur Stunde, da die Lämmer für das Paschamahl geschlachtet werden: Was für ein Sinnbild! Und der Zeitpunkt des Todes Jesu war bei den Juden die Stunde des Gebetes. Da wurde im Jerusalemer Tempel das Abendopfer dargebracht. Der Duft des Räucherwerks stieg jeden Tag um diese Zeit als Wohlgeruch zu Gott auf, während vor dem Heiligtum die Menschen beteten. Dies ist die „Stunde“, von der Jesus oft gesprochen und auf die er hingelebt hat: „Vater, die Stunde ist gekommen. Verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrlicht!“ (Joh 17,1). Und folglich handelt der Sohn in dieser alles entscheidenden Stunde. Jesu Passion wird im Johannesevangelium zum Tagewerk höchster Aktion, in der Gott den menschlichen Menschen und der Mensch Jesus die Liebe Gottes offenbart.

Um die sechste Stunde fällt das Todesurteil. Jesus wird zur Hinrichtung geführt. Nahe bei der Stadt wird das Kreuz aufgerichtet. Die Tafel mit dem Schuldspruch „Jesus von Nazaret, der König der Juden“ wird zur öffentlichen Bezeugung seiner Sendung. Die Wahrheit über Jesus, die Pilatus skeptisch infrage gestellt hatte, kommt ans Licht. Seine Habe wird verteilt. Jesu Vermächtnis geht in alle vier Himmelsrichtungen und umgreift tatsächlich in kürzester Zeit die ganze Welt. Jesus gibt auch sein „letztes Hemd“. Sein Gewand, ohne Naht von oben ganz durchgewebt, bleibt unzerteilt. Die Kirchenväter werden es als das bleibende Sinnbild und Mahnmal der Einheit der Kirche deuten. Streit und Spaltung unter den Anhängern Jesu sind darum so skandalös, weil der Herr für die Einheit alles gegeben hat. Darauf durchbricht der Herr am Kreuz die Einsamkeit des Todeskampfes und wendet sich Maria und Johannes zu. Er verweist sie aufeinander, und damit geschieht weit mehr, als dass ein Sohn persönlich für die Zukunft seiner Mutter Sorge trägt. Hier fügt der Herr die Kirche in ihrer grundlegenden Struktur zusammen, heilig in Maria und apostolisch in Johannes: So haben es die Kirchenväter ausgelegt. Beides kann nicht mehr auseinanderdividiert werden. Und dann der Durst: Als natürliches Bedürfnis muss er unerträglich gewesen sein, unerträglicher aber noch als Ausdruck der Sehnsucht nach der Nähe Gottes und nach dem Vertrauen der Menschen in diesen gütigen Vater. So bringt er seinen Lebensauftrag zu einem guten Ende. Um Gott und uns Menschen zusammenzuführen, damit wir das Leben haben und es in Fülle haben (vgl. Joh 10,10), hängt Jesus zwischen Himmel und Erde. Und mit letzter Kraft spricht er es aus: „Es ist vollbracht!“ (Joh 19,30). Jesus agiert bis zum letzten Atemzug. Er ist Herr, auch seiner Passion.

Ich suche einen Menschen – Ich suche Gott. Wem es ernst damit ist, der kann Antwort finden: heute, im Kreuz, am helllichten Tag.

Lesungen:     Jes 52–53; Hebr 4–5
Evangelium:    Joh 18,1–19,42

Fußnoten:

  1. Vgl. Jürgen Werbick, Wohin ist Gott? Eine fundamental-theologische Spurensuche, in: Stefan Walser (Hg.), Fehlt Gott? Eine Spurensuche (Ostfildern 2023), 69–90.

  2. Margareta Gruber OSF, Der Schrei Jesu und das Fehlen Gottes. Eine biblisch-spirituelle Spurensuche im Markusevangelium, in: Stefan Walser, a.a.O., 31–47, hier: 38.

  3. Fulbert Steffensky, Schutt und Asche. Streifzüge durch Bibel und Gesangbuch (Stuttgart 2023), 75.


Hinweis:

Die Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing in der Karfreitagsliturgie ist untenstehend auch als PDF-Datei verfügbar.

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